Daniel
Kehlmann: Ruhm – 9.
Kapitel
Wir werden uns in unserem Vortrag
zum 9. Kapitel von Daniel Kehlmanns Episodenroman auf zwei
Schwerpunkte konzentrieren:
Figurenkonstellation
Stilistische
Mittel, die der Erzählung
der Geschichte bzw. der Darstellung der Personen dienen.
Zur
Einführung
möchten
wir euch kurz den Inhalt dieses Kapitels in Erinnerung rufen:
Im
9. Kapitel des Romans begleitet der Autor Leo Richter seine Freundin
Elisabeth, eine Ärztin,
im Rahmen ihres Engagements bei „Ärzte
ohne Grenzen“ auf
einem humanitären
Einsatz in einem nicht näher
benannten Kriegsgebiet in Afrika.
Der
Kerngedanke dieser Episode wird bereits im Titel deutlich: GEFAHR!
Und dieser gemeinsame “Ausflug“
in das
afrikanische Kriegsgebiet ist für
die beiden Protagonisten in diesem Romanabschnitt in doppeltem Sinne
gefährlich:
einmal,
da sie natürlich
ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie in ein Kriegsgebiet reisen
und
ein zweites Mal droht Leo Richter und Elisabeth emotionale Gefahr,
denn die beiden begeben sich mit ihrer Reise in die Gefahr, dass ihr
schlimmster Albtraum zur Realität
werden könnte!
Wie das gemeint ist? Nun, Leo Richter würde
das zwar niemals zugeben, aber seine genialen Ideen, die ihm die
unumwundene Bewunderung der Öffentlichkeit
einheimsen, beruhen schlicht und einfach auf der Tatsache, dass er
sich alle Menschen rund um sich, mit ihrem Charakter, ihrem
Verhalten, ihrer Denkweise, ja sogar deren Erlebnisse zu eigen macht
und daraus seine Protagonistin Lara Gaspard gestaltet. Ja er steckt
sozusagen alle Menschen aus seiner Umgebung in seine Heldin Lara
Gaspard. Aber selbst wenn dies der Öffentlichkeit,
der Welt ein Geheimnis bleibt, so kommt Leo Richter aber bei seiner
Freundin Elisabeth nicht mit diesem Kunstgriff davon! Sie erkennt
sehr wohl, dass Leo Richter das Leben der Menschen in seinem Umkreis
sozusagen aufsaugt und dann Gott ähnlich,
also wie dieser Adam seinen Atem eingehaucht hat, um diesen zum Leben
zu erwecken, “bläst“
Leo
Richter seiner Lara Gaspard Leben ein, erweckt seine literarische
Gestalt zum Leben.
Leo
Richter muss in diesem Romanabschnitt –
auch
wenn es nur “seine“
Geschichte
ist, erkennen, dass Elisabeth ihn “durchschaut“,
seinen Trick, an geniale Ideen zu kommen, erkannt hat und ihn
verlassen wird. Seine vielgepriesene „geniale
Kreativität“
löst
sich also – zumindest
mal vor Elisabeth – in
Schall und Rauch auf; was das „kreative
Genie“ all
die Jahre über
betrieben hat, ist nichts anderes als „Kopieren
und Kombinieren“.
Wie
diese „Gefahr“
endet?
Nun, der Leser bleibt mit dem Eindruck zurück,
dass dieses Kapitel in doppeltem Sinne den Anfang des Endes bedeutet:
Einmal
für
die Beziehung Leo Richter –
Elisabeth
und ein zweites Mal für
Leo Richter als Schriftsteller.
Dem aufmerksamen Leser wird
bereits aus dem Titel des 9. Kapitels klar, dass dieses inhaltlich
eng mit dem 2. vernetzt sein muss, da ja beide denselben Titel
tragen.
Nun aber zur
Figurenkonstellation: Also, wer sind die Romanfiguren, die in dieser
Episode vorkommen?
Da
sind mal – wie
bereits erwähnt
– Leo
Richter und seine Freundin Elisabeth. Dazu kommen noch Lara Gaspard,
also die Protagonistin in Leo Richters literarischen Werken und Frau
Riedergott. Während
Lara Gaspard bereits dreimal in die Handlung einer Episode
eingetreten ist – konkret
in der 2., 3. und 7. – handelt
es sich für
Frau Riedergott bloß um
den 2. Auftritt: Sie kam bis zu diesem Zeitpunkt nur im 2. Kapitel
vor; da war sie die Repräsentantin
eines deutsche Kultusinstituts, die Leo Richter und Elisabeth bei
einer Station seiner Vortragsreise empfangen hat.
Die Autorin Maria Rubinstein, die
Hauptperson im 5. Kapitel, und Miguel Auristos Blancos, Hauptfigur im
6. Kapitel, in treten selbst nicht auf, sind aber Thema der Handlung.
Das
9. Kapitel des Romans ist also auch von der Personenkonstellation her
mit den anderen verknüpft.
Wie
lässt
sich nun das 9. Kapitel von der Figurenkonstellation her
interpretieren? Nun, die gemeinsame Reise von Leo Richter und
Elisabeth in ein afrikanisches Kriegsgebiet wird zum Wendepunt in
ihrer Beziehung!
Für
Leo Richter und Elisabeth wird diese Reise zum Schlüsselerlebnis,
was die Figurenkonstellation anbelangt, denn diese Reise ist ein
Ruck, eine Verschiebung in der jeweiligen Rolle: Während
Elisabeth im 2. Kapitel gewissermaßen
Leos Beschützerin
war, ihn vor Unannehmlichkeiten so weit wie möglich
abgeschirmt hat oder zumindest stets versucht hat, seine
Befürchtungen
zu zerstreuen, so hat sie nun in ihm eine Art Partner, der handelt,
nicht geführt
werden muss: „Erst
danach war es (Elisabeth) zu Ohren gekommen, dass (Leo) an ihrem
letzten Tag (in der Hauptstadt) ihren Fahrer heimlich bezahlt hatte,
ihn durch jene Slums zu fahren, wo gerade die schlimmsten
Ausschreitungen stattgefunden hatten“.
Die
Reise ist das erste Mal in ihrer Beziehung, dass Elisabeth Leo in
“ihr“
Leben
lässt!
Dieser Schritt verändert
die Beziehung der beiden: Elisabeth “öffnet“
sich
Leo, lässt
ihn Anteil haben. Dieses Verhalten steht in starkem Kontrast zum 2.
Kapitel, wo sie sich ins Badezimmer einschließt
und von dort aus ihre Telefonate führt
oder Leo mit einem „Frage
besser nicht. Eine lange Geschichte“
abfertigt,
als dieser wissen will, was sie am Telefon bespricht.
Im
9. Kapitel begegnet uns eine andere Elisabeth: Sie ist nicht länger
bereit, Leo Richter abzuschirmen, sondern „will
ihm das richtige Leben endlich zeigen, [...] weil sie neugierig war,
wie er sich unter wirklichem Druck verhielt, [..] vielleicht aber
auch bloß,
weil sie ihm keinen Wunsch abschlagen konnte“.
Aber
die Veränderung
in der Figurenkonstellation ist nur Leos Wunschdenken, nicht
Realität,
denn der Leser erkennt, dass die Reise nichts weiter als eine
Geschichte von Leo Richter ist, nicht in der realen Welt stattfindet:
„Die
Frau mit braunen Haaren, schlank und groß
gewachsen,
von außergewöhnlicher
Schönheit“,
die zusammen mit Frau Riedergott aus einem der Häuser
tritt, ist Lara Gaspard, Leo Richters Schöpfung!
Doch
Elisabeth ist stark und Leo weiß
das.
Deshalb kann er selbst in “seiner“
Geschichte
nicht umhin, Elisabeth versuchen zu lassen, ihre Position der
Überlegenheit
zurückzuerobern:
„Und
ich werde dich verlassen“ erklärt
sie kurz und knapp, als sie erkennt, dass sie in eine von Leos
Geschichten gekommen ist. Doch der “neue“
Leo,
also der Held in seiner Geschichte, weiß
sich zu
wehren: „Aber
nicht jetzt. Nicht in dieser Geschichte“.
In seiner fiktiven Welt ist ja er der Federführer.
Kehlmann
setzt aber nicht nur in diesem Schlagabtausch, der auf Minimalsätzen
beruht, geschickt auf stilistische Mittel, um die Wirkung dieser
Episode, der Kreuzung von Realität
und Fiktion bzw. Traum in der Beziehung Leo –
Elisabeth
zu steigern:
Elisabeths
Verwirrung in Anbetracht der Tatsache, dass ihr ein “neuer“,
ein “ihr
unbekannter“ Leo
gegenübersteht,
kommt gut in den vielen Fragen, die ihr durch den Kopf gehen, zum
Ausdruck: „Was
in aller Welt ging hier vor“?
Woher nahm (Leo) plötzlich
diesen Mut?“,
„Was
glaubte (Leo) denn, hielt er sich jetzt für
André Malraux?“
Wie
Leo in seiner “neuen“
Rolle
als Elisabeth ebenbürtig
aufgeht und seine Identität
als Schriftsteller scheinbar hinter sich gelassen hat, geht aus der
lapidaren von Ellipsen dominierten Art hervor, mit der er sich
abwertend über
einen Literaturpreis äußert:
„Ich
habe gesagt, an solchen Blödsinn
kann ich jetzt nicht denken [...] kann mich jetzt einfach nicht darum
kümmern“.
Poetische
Naturbeschreibungen sind ein Kunstgriff, mit dem Kehlmann dem Leser
durch die Blume zu verstehen gibt, dass es sich bei der Reise um kein
reales, sondern ein aus Leo Richters Feder stammendes Ereignis
handelt: „Der
Wind strich (Leo und Elisabeth) durch die Haare; es roch nach Erde,
die Sonne stand riesenhaft über
ihnen; so hell war es, dass man die Augen zusammenkneifen musste und
alle Dinge sich in Licht auflösten
[...] aus der Ferne hörte
(Elisabeth) dunkel rollenden Donner“.
Zum
Abschluss möchten
wir noch kurz darüber
sprechen, warum Daniel Kehlmann auch im 9. Kapitel den Erfolgsautor
Miguel Auristos Blancos auftreten lässt:
Wie auch in den Kapiteln 1, 2, 3, 4 und 7 ist Blancos auch im 9.
Kapitel nur eine Nebenfigur; konkret kommt er nur in Form eines
seiner Bücher
vor. Einer der Kollegen, mit denen Elisabeth auf dieser Reise
unterwegs ist, liest M. Aristos Blancos „L’art
d’être
soimême“,
auf Deutsch „Die
Kunst, sich selbst zu sein“.
Und genau darum geht es in diesem Kapitel: Leo Richter will sich
selbst sein. Deshalb “schreibt“
er die
Geschichte von dieser Reise, denn in “seiner“
Geschichte
kann er sich selbst sein. Das Problem ist aber, dass sich “sein
Ich“,
also die Art, wie er sich sieht, nicht mit der Realität
deckt! Er ist der Leo Richter aus dem 2. Kapitel, der eitle,
neurotische Schriftsteller, der ständig
und vor allem Angst hat, und nur auf seinen Ruhm bedacht ist. Wie
Kehlmann dies dem Leser zu verstehen gibt? Wieder durch geschickten
Einsatz von stilistischen Mitteln: Leo Richter will der “mutige“
Held
sein, der sich uneigennützig
in Gefahr begibt. Aber der “alte“
Leo
lässt
sich nicht so einfach abschütteln:
„Hier
abstürzen.
Das wäre
was. Macht sich gut in der Biografie. Verschollen in Afrika“.
Er will nicht so denken, aber er muss, denn es ist seine Natur.
Deshalb lässt
Kehlmann ihn in Ellipsen und im Konjunktiv II sprechen.
Das
9. Kapitel von Daniel Kehlmanns Episodenromans „Ruhm“
ist
sicherlich ein schönes
Beispiel für
den Ruck in der Figurenkonstellation, zu dem es kommen kann, wenn
einer von zwei Menschen auf einmal die Möglichkeit
hat, das Steuer in die Hand zu nehmen, die Situation nach seinem
Gutdünken
zu steuern, wenn auch nur im Traum.
, ,
12d
Daniel Kehlmann: Ruhm – 9. Kapitel
(Gefahr)
Inhalt:
Leo Richter & Elisabeth auf
humanitärem Einsatz in einem afrikanischen Kriegsgebiet
Kerngedanke:
Gefahr:
physisch: Kriegsgebiet
emotional / psychisch:
Elisabeth: von Leo Richter in eine
Geschichte einverleibt Albtraum wird wahr
Leo Richter: von Elisabeth
“durchschaut“ nicht länger das „kreative Genie“,
sondern bloß ein “Kopierer & Kombinierer“ der Realität um
ihn
Anfang
vom Ende in doppeltem Sinn:
Beziehung Leo Richter & Elisabeth
Leo Richter, der Schriftsteller
Figurenkonstellation:
Personen der Handlung:
Hauptfiguren (HF)
Leo Richter (HF in 2, NF in 3,
5, 7)
Elisabeth (HF in 2)
Nebenfiguren (NF)
Lara Gaspard (NF in 2, 3, 7)
Frau Riedergott (NF in 2)
Maria Rubinstein (HF in 5, NF
in 2)
Miguel Auristos Blancos (HF in
6, NF in 1, 2, 3, 4, 7)
enge
Verknüpfung
mit anderen Kapiteln
Leo Richter (LR) & Elisabeth
(E)
Verschiebung
der Rollen Schlüsselerlebnis
für
Beziehung
Leo
Richter nicht länger
unter Elisabeths Schutzschirm, sondern Initiator
Elisabeths
Bereitschaft, Leo in “ihr“
Leben
zu lassen
„L’art
d’être
soimême“
(= Die
Kunst sich selbst zu sein) als Wendepunkt in
der Beziehung
Stilistische Mittel:
Minimalsätze
bzw. Ellipsen
E: „Und ich werde dich verlassen“ –
LR: „Aber nicht jetzt. Nicht in dieser Geschichte.“ (S. 201)
Ende der Beziehung für LR zu
unvorstellbar, um es „auszuformulieren“
rhetorische Fragen
E: „Was in aller Welt ging hier vor?“
„Woher nahm (Leo) plötzlich diesen Mut?“ (S. 196)
Es Verwirrung in Anbetracht von LRs
Veränderung
Poetisierung der Natur
„Der Wind strich (Leo Richter und
Elisabeth) durch die Haare; es roch nach Erde, die Sonne stand
riesenhaft über ihnen; so hell war es, dass man die Augen
zusammenkneifen musste und alle Dinge sich in Licht auflösten [...]
aus der Ferne hörte (Elisabeth) dunkel rollenden Donner.“ (S. 195)
Reise nur fiktiv / bloß eine von LRs
Geschichten