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Interpretation
Deutsch

La Rochelle, lycée Jean Dautet

2012, Mauvillain

Sara M. ©
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ID# 52329







Leonce und Lena : Kommentar 1


1.


Der 1837 mit 24 Jahren an Typhus verstorbene Georg Büchner gilt in der heutigen Literaturwissenschaft als ein frühes Genie und ein Vorläufer der Moderne, wenn nicht des absurden Theaters. Zeit seines kurzen Lebens hat er nur zwei Werke veröffentlichen können, die Dramen Dantons Tod und das hier behandelte Leonce und Lena. Sein drittes Drama Woyzeck blieb unbeendet, wurde erst in seinem Nachlass von seinem bekannten Bruder Ludwig, dem Biologen, wiedergefunden und von Alban Berg 1925 in seiner Oper Wozzeck in Ton gesetzt.

Seine Novelle Lenz wurde auch erst später bekannt. Büchner ist in Zürich beerdigt, wo er im Exil lebte und sein Medizinstudium vollendete, nachdem er sich an revolutionären Bewegungen beteiligt hatte, um den vielen damaligen Duodezstaaten ein Ende zu bereiten, weswegen er verfolgt wurde. Sein Kampf für ein einheitliches und republikanisches Deutschland findet in Leonce und Lena einen Niederschlag.


Der lebensmüde Prinz von Popo, Leonce, langweilt sich tödlich am Hofe seines fast dem Wahnsinn verfallenenen Vaters König Peter, der ein winziges Königreich regiert. Als Leonce erfährt, dass sein Vater ihn an Lena, Prinzessin vom Nachbarland Pipi, verheiraten will, ergreift er die Flucht nach Italien mit seinem Diener, dem Narren Valerio, nachdem Leonce mit seiner Geliebten Rosetta gebrochen hat.

Mittlerweile hat Lena aus demselben Grund denselben Entschluss gefasst. Sie treffen sich unterwegs in einem Wirtshaus. Leonce, der sich in Lena auf den ersten Blick verliebt hat, küsst sie. Da sie sich aber sträubt, will er sich ertränken, um in seinen romantischen Phantasien zu schwelgen. Valerio hält ihn davon ab. Valerio will ihm gegen eine Stelle als Minister helfen, Lena zu heiraten.

Sie kommen nach Popo an dem Tag zurück, als König Peter sie zu verheiraten beabsichtigte. Da der König Peter auf jeden Fall eine Hochzeit feiern will, schlägt Valerio dem König vor, zwei Automaten an der Stelle des abweseden Paars zu vermählen, während sich Leonce und Lena in Automaten verkleidet haben. Die Automaten werden vermählt. Als sie sich aber demaskieren, entdecken sie ihre eigentliche Identität, die sie nicht einmal kannten und dass sie durch den Trick genau das verursacht haben, was sie verhindern wollten.

Die Zeremonie wird schnell durchgeführt, König Peter geht vor Konfusion in seine Gemächer zurück und Leonce verspricht dem Volk, am folgendenden Tag den " Spaß von vorne an wiederanzufangen " und aus seinem Reich ein dem Müßiggang gewidmetes Schlaraffenland zu machen.


Die Hauptthemen des Werkes sind die Kleinstaaterei und die verkrusteten Ungerechtigkeiten eines hinter seiner Zeit zurückstehenden Deutschlands, sowohl als die Kritik am Scheitern der Aufklärung und der Romantik, die soziale Heuchelei zu entlarven, als auch die Leere unseres Lebens, die die Kommunikation zwischen den Figuren stört und ihnen keine andere Wahl gibt, als sich der Langeweile und dem Müßigggang hinzugeben.


Genau am Anfang der Komödie setzt unser Auszug ein.


2.


In der ersten Szene kennen wir Prinz Leonce lernen. Seine Figur erinnert an andere, die man in den Quellen des Werkes wiederfindet, deren Stoff Büchner intensiv umgearbeitet hat, wie z.B. den lebensmüden Prinzen in Gozzis Liebe zu den drei Orangen, dessen Figur Tieck auch wiederaufgenommen hatte in seinem Zerbino, aber auch an den Ponce de Leon von Brentano, an dessen Namen " Leonce " eine durchsichtige Anlehnung bildet.

Die Intertextualität spielt in diesem Werk auf Anhieb eine große Rolle, denn es wird nicht nur durch eine kleine Vorrede eingeführt, wo Gozzi explizit erwähnt wird, sondern der ersten Szene selbst wird ein Zitat von Shakespeare vorausgeschickt, auf den Büchner im ganzen Drama anspielt. Bei Shakespeare hat er übrigens eine andere Figur gefunden, auf die wir später in derselben Szene stoßen : den Narren, der hier von Valerio gespielt wird.


Aber im Gegensatz zu Valerio leidet Leonce an Weltekel : sein Müßiggang macht ihn " ganz melancholisch" (Seite 2, Mitte), " es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang " (ibid.). Valerio ist das glückliche Pendant zu Leonce : " Komm an meine Brust ! Bist du einer von den göttlichen, welche mühelos [von mir hervorgehoben] mit reiner Stirn durch den Schweiß und Staub über die Heerstraße des Lebens wandern . ? ".

Offentsichtlich beneidet Leonce ihn um seine Unbekümmertheit, wodurch man das Zitat von Shakespeare besser versteht : " O wär' ich ein Narr ! ", weil Leonce eben keiner ist. Der Narr ist der, der im Gegenteil zu Leonce sich mit der Sinnlosigkeit des Lebens zufriedenzustellen weiß.


Ganz naiv schlägt übrigens in der letzten Szene des Werkes Leonce vor, " alle Uhren zu zerschlagen ". Wird es aber je genügen, um seine Melancholie zu heilen ?


Denn das ganze Werk bildet selbst einen Kreis, dem jeder Sinn fehlt. Die ganze Handlung des Theaterstückes kommt auf die Ausführung genau von dem hinaus, was Leonce und Lena zu Beginn verhindern wollten : es hat zu nichts gedient und geführt, so dass Leonce am Ende ironisch vorschlagen kann, alles am Tag danach vom Anfang an wiederzuspielen : das Theater mit seinen täglichen Aufführungen wird selbst zur Metapher eines sinnentleerten Lebens.


Natürlich hat man mit Recht unterstrichen, Leonces Müßiggang sei die Beanstandung einer aristokratischen Klasse, die zwecklos geworden ist und damals der Vereinigung Deutschlands das größte Hindernis in den Weg legte. Natürlich sind die derb getauften Reich Popo und Pipi, die man in einer Stunde durchkreuzen (2. Akt, 2. Szene) und von einem einzigen Fenster aus (3. Akt, 3. Szene) entdecken kann, eine höhnische Kritik an der Kleinstaaterei.



Hier wird ein anderes wichtiges Thema des Werkes aufgegriffen, das sich später durch das Motiv der Automaten ausdrücken wird : die soziale Heuchelei, die ein inhaltsleeres Leben zu vertarnen versucht. Seit L'Homme-machine (deutsch Der Mensch als Maschine) vom französischen La Mettrie hat die Aufklärung eine mechanistische Weltauffassung in Europa verbreitet.

Anfangs war diese Konzeption als befreiungsträchtig angesehen, da sie uns die Religion ersparte, um unser Dasein zu verstehen. Ganz schnell wurden aber das Automat-Motiv oder ähnliche wie in Frankenstein von Romantikern wiederaufgenommen, um unserem Unbehagen vor dem möglichen Missbrauch der Wissenschaft und seiner gotteslästernden prometheischen Hybris (= griech. für Übertreibung, Übersteigerung) Ausdruck zu verleihen.

Wenn er nur Duodezfürsten karikiert hätte, dann würde man ihn nicht mehr lesen.


Sogar die Sprache wird mechanisch und sinnleer ; entweder reden die Figuren aneinander vorbei : " Valerio : Ja ! / Leonce : Richtig ! / Valerio : Haben Sie mich verstanden ? / Leonce : Vollkommen ", oder aber die Sprache wird zu einem bloßen Spielinstrumentarium, wie z.B. Erster Akt, Dritte Szene wieder zwischen Valerio und Leonce : " Es ist eine traurige Sache um das Wort " kommen ".

Will man ein Einkommen, so muss man stehlen, an ein Aufkommen ist nicht zu denken usw. "


Auch das Denken wird dann mechanisch, was man am besten bei König Peter feststellen kann, als er zum Beispiel seinem Staatsrat erklären will, er wolle seinen Sohn verheiraten, es aber nicht weiter bringen kann als folgendes : " Entweder verheiratet sich mein Sohn, oder nicht (legt den Finger an die Nase [in einer Gestik, die der von Valerio in unserer Szene ähnelt, als er dem Leonce seine Narrheit zeigen will]) - entweder, oder - Ihr versteht mich doch [ironischerweise eben nicht!] ? Ein drittes gibt es nicht.


Die Parodie gilt aber nicht nur den Aufklärern, sondern auch den Romantikern und dies wird später ganz deutlich in der Szene des kläglichen Selbstmordversuches von Leonce veranschaulicht : " Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden, und das Wetter ist vortrefflich.

Jetzt bin ich schon aus der Stimmung. Der Kerl hat mir mit seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen alles verdorben ", was natürlich eine Anspielung auf Werthers Tod ist und die Intertextualität des Werkes so verstärkt, dass man sich fragen könnte, ob eben diese Intertextualität nicht etwa ein weiteres Zeichen des Absurden ist : hat nicht der postmoderne amerikanische Philosoph Richard Rorty beteuert, in einer postmodernen, dem Sinn abgewandten Welt heiße es nur noch, die Literatur und die Geschichte ironisch zu zitieren ? Diese parodistischen Züge findet man schon in der ersten Szene des Werkes : " Ich werde mich indessen in das Gras legen und [ .] romantische Empfindungen beziehen ", eine Passage, die auch stark an Textstellen aus dem Werther erinnert.


In einer mechanischen Welt erscheint also die Perfektion als eine perfekte Maschine und nicht aus Zufall verlieben sich romantische Tolpatsche in Automaten, wie Prinz Onoraro in Goethes Triumph der Empfindsamkeit oder die Hauptfigur in Hoffmanns Sandmann in Olimpia. Da die Sprache bei Büchner nur noch eine Täuschung ist, wünscht sich Leonce eine Braut, die " unendlich schön und unendlich geistlos " ist, " diese himmlisch stupiden Augen, [ .] dieser geistige Tod in diesem geistigen Leib ", welcher als Echo auf das am Ende Aufgeforderte widerhallt.

Denn in einer sinnlosen Welt gilt es nur noch, Spaß zu haben und Gott zu bitten um " Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion ". Valerio ist eben der, der es sich in so einer Welt am bequemsten macht, indem er sich auf das Gras legt und sich der Pascalschen Ablenkung (= divertissement pascalien) ohne Gewissensbisse und Strebung nach einer höheren Welt völlig überlässt.


3.


Die hier zu behandelnde Textstelle stellt uns also die Begegnung zwischen Leonce und Valerio dar. Man muss sich daran erinnern, dass Büchner Medizin studiert hatte und sein eigener Bruder einer der allerersten Verfechter des Darwinismus in Deutschland war. Andererseits war er sehr belesen und kannte die deutsche und die europäische Literatur sehr gut, was die intertextuelle Dichte seiner Werke beweist.

Hier will ich also die Hypothese aufstellen, dass Leonce und Valerio zwei widersprüchliche Aspekte seiner Persönlichkeit vertreten : den Literaten und den Wissenschaftler. Der Wissenschaftler bejaht die Errungenschaften des Wissens und betrachtet sie als Chancen, überholte Gesellschaftsordnungen und Religionen loszuwerden. Er nimmt keinen Anstand am Müßiggang, an der Pascalschen Ablenkung, weil es nichts Anderes gibt außerhalb der diesseitigen Welt.

Diesen ironischen und nostalgischen Ton findet man auch bei Heine.


Man muss deshalb aufmerksam vorgehen, bevor bei Büchner eine typisch postmoderne Ironie diagnostiziert wird, denn vielleicht ist so eine Lektüre anachronistisch, soweit wir vielleicht eine historisch bedingte Desillusion für eine grundsätzlichere halten : Deutschland von 1815 bis 1870 stand in einer Sackgasse, so dass damalige Deutsche leicht den Eindruck haben konnten, dass im Gegensatz zu Frankreich und England die Geschichte in Deutschland stehengeblieben sei.

Das äußert auch der junge Marx, als er 1843 (d.h. erst 6 Jahre nach der ersten Ausgabe von Leonce und Lena) in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie erklärt : " Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, so haben wird Deutschen unsere Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein ".



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